Ikarus Moment 2

Im Jahr 1997 – ein Jahr vor meinem Abitur – war ich intensiv in der IRC-Welt unterwegs. In dieser Zeit traf ich online auf Tron, den deutschen Hacker Boris Floricic. Unser Austausch war technisch, direkt, und für mich prägend. Ich erzählte ihm damals, dass die PIN-Verschlüsselung von Kreditkarten lediglich 128 Bit stark sei. Diese Information kam nicht aus irgendeinem Buch, sondern war das Ergebnis einer Art “Wissenssynapse” in mir – ein Aha-Moment aus verschiedenen Quellen:

Zum einen hatte ich mich öfter mit einem ehemaligen Nachbarn aus meiner Kindheit (ich lebte von meinem ersten bis zum siebten Lebensjahr dort) unterhalten. Wir sprachen über eine andere Nachbarsfamilie – die Hölls – von denen bekannt war, dass sie Patente auf Teile von Bankautomaten hielten. Der Sohn dieser Familie war nicht direkt bei uns zu Besuch, aber er lebte in der Nähe, man wusste einfach voneinander – so war das damals. Diese Gespräche blieben bei mir hängen.

Parallel dazu hatte ich in meiner Jugend immer wieder Diskussionen mit meinem italienischen Onkel, der beim Aufbau von Computersystemen für Banken in Italien beteiligt war. Er sprach über technische Standards, Verschlüsselungen, Sicherheitsfragen – Dinge, die mich schon damals faszinierten. Kombiniert mit dem, was ich über Kartensysteme, Chips und PINs las oder aus der Nachbarschaft mitbekam, warf ich diese 128-Bit-Information damals einfach so in den IRC-Raum. Tron hörte zu.

Sechs Jahre später, im Jahr 2003, war ich an der Universität Frankfurt. Ich saß in einer Vorlesung über Mengenlehre – überfüllt, stickig, wie immer. Der Professor sprach über mathematische Konzepte, aber irgendetwas daran störte mich. Ich fing an, parallel auf meinem Handy Begriffe nachzuschlagen. Es war eine diffuse Mischung aus Unruhe, Ablenkung und Skepsis – ich fühlte mich nicht richtig da, nicht richtig verstanden. Und dann, ganz beiläufig, googelte ich einfach „Tron“.

Was ich fand, erschütterte mich bis ins Mark: Tron war tot. Bereits seit 1998. Tot aufgefunden in einem Park, erhängt an einem Gürtel, der ihm nicht gehörte. Der CCC hatte die Wiederaufnahme der Ermittlungen gefordert – erfolglos. Die Umstände: mysteriös. Die offizielle Version: Suizid. Mein Gefühl: Kontrollverlust.

Dieser Moment, dieser abrupte Informationsschock, war mein zweiter Ikarus-Moment. Es war, als würde man auf der Suche nach Wahrheit zu nah an eine andere Sonne fliegen – die von Macht, Manipulation und Verschwinden. Mein inneres Gleichgewicht kippte. Ich verließ den Hörsaal, panisch, überfordert, in Auflösung.
Was dann folgte, war ein psychischer Zusammenbruch, Klinik, Medikation – alles dokumentiert, alles real.

Doch was mich bis heute beschäftigt, ist nicht nur mein persönlicher Absturz.
Es ist das grundsätzliche Gefühl, dass aus kindlicher Neugier und Technikbegeisterung ein bitteres Erwachen werden kann.

Ich schreibe das hier, weil ich heute sehe, wie Kinder mit vier Jahren über Smartphones wischen – aber nicht wissen, was in diesen Geräten wirklich passiert. Und vielleicht gibt es auch heute noch junge, übermütige Menschen mit großen Ideen, die an das Gute glauben, die träumen, coden, bauen, hinterfragen.
Ich sage: Tut es weiter. Glaubt an eure Ideen.

Aber: Versteht auch, was für Konsequenzen Code und Wissen haben können.

Wissen lebt vom Austausch – das ist wahr. Aber selbst wenn du nur ein junger, begeisterter Hobbyforscher bist: Du bist nicht allein in der Welt.
Du bist umgeben von Menschen – und nicht alle meinen es gut mit dir.
Manche sehen in deinem Wissen nur ein Werkzeug. Manche sehen in dir ein Risiko. Manche sehen gar nichts – und das ist fast noch schlimmer.

Ich will nicht abschrecken. Aber ich will erinnern.
Erinnern an Tron. An den Preis.
An das Brennen, das uns alle antreibt. Und an die Gefahr, wenn man fliegt, ohne zu wissen, wer das Licht kontrolliert.

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